Natürlich begegne ich nun nach der abscheulichen Tat gegen die Menschlichkeit, gegen die Freiheit von Kunst und Kultur, offenbar ausgeführt von jungen männlichen Islamisten, immer wieder ein daraus abgeleitetes pauschales Vorverurteilen einer ganzen Religion mit Mrd. von Menschen, die sich dieser Religion zugehörig führen.
Religion bedeutet im Ursprung “Bindung” und ist Teil einer Identität, entstammend aus der Sehnsucht nach dem Letzten. Die meisten “rutschen” da durch Erziehung rein, viele wagen den Ausstieg, einige wenige wagen die kritische Hinterfragung und Reformierung ihres Wertesystems. Ich, der sich als agnostischer Humanist und Konstruktivist versteht, wehre mich reflexhaft gegen Pauschalisierung und Vorverurteilung von Menschen, vor allem wenn dies aufgrund von aggressiv-soziopathischen oder sonstigen pathologischen Gewaltakten einiger weniger Menschen geschieht.
Um mir die Arbeit in Zukunft zu erleichtern habe ich mir einige Textbausteine zusammengestellt, die ich bei Bedarf per Copy & Paste hervorholen kann. Meine Thesen sehe ich natürlich nicht als Wahrheit sondern als eine gangbare Perspektive auf das Thema. Mir ist wichtig, das daraus erkennbar wird, wie komplex das Thema ist und das man mit “Patendlösungen” (Paul Watzlawick) vermutlich nicht weit kommen wird, sondern im Gegenteil, die Spirale der Radikalisierung auf beiden Seiten vermutlich weiter anreizt.
All diese Punkte sind für mich die Begründung warum es keine gute Idee ist das Thema zu pauschalisieren und zu verfeindbildlichen. Im Gegenteil. Es gilt weiterhingefährliche Dogmen auf allen Seiten zu deinstallieren, Lebensumstände von orientierungslosen ausgegrenzten Menschen zu stabilisieren und endlich aufzuhören die Welt völlig platt in Schwarz und Weiß ohne jedwede Beziehungen, also Interdependenzen, einzuteilen. Hier nun die Bausteine, die gerne erweitert oder kritisch hinterfragt werden dürfen.
1. Islamisierung ist nicht Islamismus ist nicht der Islam.
1. Es gibt nicht “DEN Islam”. Das ist einerseits das Hauptproblem, weil es keine hierarchische Struktur gibt wie beim Katholizismus. Also ein Oberhaupt, der ansagt wo es langgeht und sich klar positioniert. Andererseits ermöglicht diese Strukturs überhaupt erst zügiger reformatorisch zu wirken. Jedenfalls in der Theorie. Vergleiche dazu die christliche Reformation, die bewusst die Hierarchie des Katholizismus umgangen hat um auch in Zukunft reformierbar zu bleiben.
2. Gibt es untereinander verstrittene islamische Strömungen. Es gibt toalitäre Strömungen, es gibt aufgeklärtere Strömungen. So wie in den anderen Religionen auch. Es gibt fundamentalistische Protestanten und reformdrängende Katholiken. Dschihadistische Terrorgruppen wie die IS ermorden Gläubige einer anderen islamischen Strömung, weil sie nicht in die eigene totalitäre Islaminterpretation zu passen scheinen. Das wäre in etwa so als ob eine Organisation innerhalb der katholischen Kirche (z.B. Opus Dei) plötzlich Katholiken ermordet weil sie ihnen nicht katholisch genug erscheinen.
3. A propos aufgeklärtes säkularisiertes Europa: Bis vor kurzem hatten wir mordende und gewalttätige Katholiken und Protestanten in Irland. Oder denken wir nur an das schreckliche Massaker von Srebrenica oder ganz aktuell Massaker in Zentralafrika.
4. Viele islamischen Strömungen, vor allem in Europa und in Deutschland, distanzieren sich massiv von den Salafisten und anderen totalitären Auslegern. Ja, es könnte ggf. deutlicher sein und mehr Stimmen haben. Aber wir sollten auch kritisch hinterfragen ob wir so Aktionstage der Islamverbände in Deutschland momentan einfach nicht sehen können oder wollen. Und wann ist genug, genug? Und warum gingen nicht 100.000 atheistische Menschen auf die Straße als die Terrororganisation NSU in Deutschland zahlreiche Menschen ermordet hat?
5. Wie in jeder Religion gibt es Menschen die völlig unterschiedlich ticken und den Glauben völlig unterschiedlich interpretieren und auch praktisch ausüben. Leider in alle erdenklichen Richtungen. Das gilt übrigens auch für Atheisten, die sowohl tolerant als auch mörderisch in ihrem “(Nicht)Glauben” handeln können und es auch in massivster Form in der Vergangenheit getan haben. Religion liefert eine moralische Vorlage, sie führt aber nicht zwangsläufig immer auch zur Ausbildung von Gewalttätern und Unterdrückern. Ähnliche Diskussionen erleben wir bei Killerspielen und Amokläufen. Auch hier kann man das nicht einfach so kausalisieren.
6. Es ist zwar einfach Mrd. von Menschen aus sehr verschiedenen und damit komplexen Kulturräumen und Krisengebieten über einen Kamm zu scheren, aber es wird in der Sache vermutlich nicht weiterbringen. Ein Mensch im Bürgerkriegsgebeutelten Nigeria oder Syrien tickt einfach mal so komplett anders als ein Mensch in Deutschland – unabhängig seiner gelebten Glaubensstruktur. Sozialisation wirkt kontinuierlich und besteht mehr als aus einem Glaubenskonstrukt.
7. Ja, Religionen sind in der Regel dogmatisch und macht sie infiltrierbar für totalitäre Herrschaftsführer, aber nur immer bis zu dem Grad, wie sie von den Mitgliedern auch mitgetragen werden. Ich fürchte nun durch eine Pauschalisierung und ein populistisches Drängen in die Terror-Ecke, dass GERADE die Reformkräfte im Islam geschwächt werden und die Radikalisierung eher parallel voranschreitet. Welche Optionen bleibt den Muslimen eigentlich aus westlichem Verständnis heraus? Sollen sie ihre Religion umgehend komplett abwerfen oder am besten gleich konvertieren? Oder sollen sie sich lieber gleich den Fundamentalisten anschließen, denn dazu werden sie ja durch die Eigenschaft des Islams offenbar zwangsläufig gemacht. In der Psychologie nennt man das übrigens “Zuschreibung”. Das gilt vor allem für die jungen männlichen Sinnsucher und Zwischenweltler, die genau darin eine Kränkung der eigenen Identität erfahren. Sie werden halt identitätsmäßig nicht als echte Deutsche, Franzosen, Europäer usw. angesehen und nun dürfen sie noch nicht einmal mehr dem Islam, einem weiteren wichtigen Identitätsmarker, angehören weil die alle gleich böse, unmenschlich und barbarisch sind. Dann können sie ja gleich …
PS: Auch ich gebe offen und ehrlich zu, dass ich dem alltäglichen Rassismus und den Vorurteilen auch immer mal wieder erliege. Das heißt ich bin kein Deut besser und mache natürlich auch mehr als genug Fehler. Für mich ist aber gerade das ein wichtiges Signal noch selbstkritischer zu sein was das eigene Denken und Handeln betrifft und gerade zu versuchen der Vorurteilsfalle zu entkommen. Es ist ein lebenslanger und anstrengender Prozess, den man allerdings auch wollen muss. Auch das steht für mich für Humanismus und Aufklärung in Europa.
PPS: Natürlich darf und soll der Islam und seine verschiedenen Auslegungen weiter kritisiert werden. Mir geht es hier nur um die Kurzschlusshandlung “Islam = Terror”.
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